Feedback-Kultur gestalten – Sinn und Unsinn von 360°-Feedback-Tools

In diesem Deep Dive hinterfragen Thilo Leipoldt und Veronika Völler gängige Annahmen rund um 360°-Feedback-Verfahren, fundiert, kritisch und praxisnah. Sie zeigen auf, wie strukturiertes Feedback mehr sein kann als ein Diagnosetool: ein wirksamer Impuls für Reflexion, Beziehungsqualität und gemeinsame Führungsentwicklung. 

Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie kann Feedback gelingen, trotz Standardisierung, trotz Anonymität und trotz der zunehmenden Kritik, an 360°-Feedback-Verfahren? 

Die Autor:innen verbinden psychologisches Fachwissen mit langjähriger Beratungspraxis und machen deutlich: Die Wirksamkeit eines 360°-Feedbacks hängt nicht vom Fragebogen ab, sondern von Haltung, Einbettung und Dialog. 

Der Deep Dive vermittelt: 

  • Voraussetzungen für die sinnvolle Anwendung von 360°-Feedback-Tools
  • Die häufigsten Kritikpunkte und wie man ihnen begegnet
  • Empfehlungen zur Gestaltung von Feedback-Prozessen mit Wirkung
  • Die Bedeutung von Feedback-Workshops als Raum für echte Verständigung 

 

Fazit: 360°-Feedback ist kein Selbstzweck. Richtig eingebettet, kann es ein Türöffner sein, für Entwicklung, Dialog und eine lebendige Feedback-Kultur. 

Einleitung

360°-Feedback gehört mittlerweile zum Standardrepertoire moderner Personalentwicklung. Ob in Konzernen, mittelständischen Unternehmen oder öffentlichen Organisationen, kaum ein Instrument wird so häufig eingesetzt, wenn es darum geht, Führungskräfteentwicklung, Kulturveränderung oder Potenzialanalysen strukturiert anzugehen. Die Idee ist bestechend: Ein umfassender Blick aus verschiedenen Perspektiven, von Mitarbeitenden, Kolleg:innen, Vorgesetzten und manchmal sogar Kund:innen, soll die Selbstreflexion fördern und Entwicklungsimpulse geben.

Je weiter sich 360°-Feedback-Verfahren verbreiten, desto lauter wird auch die Kritik an ihrer Aussagekraft, Wirksamkeit und tatsächlichen Anschlussfähigkeit im Führungsalltag. In einer Arbeitswelt, die von zunehmender Komplexität, Selbstorganisation und Veränderungsdynamik geprägt ist, wird Feedback zur Schlüsselressource: für Orientierung, für Entwicklung, für Beziehungsqualität. Eine gelebte Feedback-Kultur entscheidet mit darüber, wie lernfähig eine Organisation bleibt und wie wirksam Führung tatsächlich ist. Umso wichtiger ist es, kritisch zu prüfen, wo strukturierte Verfahren wie das 360°-Feedback ihren Platz haben und wo sie vielleicht mehr versprechen, als sie einlösen können.

In diesem Deep Dive beleuchten die Autoren die zunehmende Kritik an 360°-Feedback-Verfahren. Gleichzeitig nennen sie die Voraussetzungen und beschreiben die Rahmenbedingungen, wie 360°-Feedbacks einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung einer nachhaltigen Feedback-Kultur leisten können.

360°-Feedback

Das 360°-Feedback ist ein Personalentwicklungsinstrument zur systematischen „Beurteilung von Führungskräften aus der Perspektive verschiedener Beurteilergruppen (zum Beispiel Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter und Selbst)“ (Scherm & Sarges, 2002, S.1). Es wird zur Bewertung oder zur Entwicklung der Kompetenzen im Sinne des Anforderungsprofils genutzt. Der Einzelne erfährt eine Standortbestimmung seiner Stärken und Lernfelder (IST-Zustand) im multiperspektivischen Vergleich zu dem vom Unternehmen formulierten Fähigkeiten im Kompetenzmodell und dem Erwartungswert der Organisation (SOLL-Zustand) (Schwarz, 2008). Es findet ein Abgleich von Selbst- und Fremdeinschätzung auf einer individuellen sowie organisationalen Entwicklungsebene statt. In der Regel erfolgt die standardisierte Befragung in schriftlicher und anonymer Form. Das konkrete Design eines 360°-Feedback-Instruments kann je nach Zielsetzung innerhalb der inhaltlichen Kriterien (zu beurteilenden Fähigkeiten und Kompetenzen) sowie der methodischen und formalen Kriterien variieren.

Ziele und gewünschte Auswirkungen eines 360°-Feedbacks

Das 360°-Feedback stiftet nicht nur der Führungskraft in der Rolle des Feedback-Nehmers einen erheblichen Nutzen, sondern auch nachhaltig der gesamten Organisation.

Führungskräfte interagieren meist täglich mit mehreren Schnittstellen und haben unterschiedliche Rollen inne. Feedback ist im Tagesgeschäft daher meist eine Rarität. Das 360°-Feedback schenkt der Führungskraft ein differenziertes und bestenfalls regelmäßiges Feedback. Gleichzeitig stimuliert ein solches Feedback auf vielfältige Weise die Selbstreflexion der Führungskraft und schafft ein Bewusstsein über eigene Stärken und Lernfelder. Dies wiederum fördert die Entwicklungsmotivation, das Vertrauen in die eigenen Stärken und in die Selbstwirksamkeit. Neben dem Bewusstsein für sich selbst schärft das 360°-Feedback das Bewusstsein für die Perspektiven und Bedürfnissen der Feedback-Geber. Das Verständnis für sein Gegenüber kann die Kommunikation und Entscheidungsprozesse in der täglichen Routine erheblich erleichtern. Bevorstehende organisationale Veränderungsprozesse können mit einer neuen gemeinschaftlichen Kraft vorangetrieben werden (Scherm & Sarges, 2002).

Die Organisation kann ein 360°-Feedback nutzen, um eine Diagnose über das aktuelle Wissen und die Fähigkeiten der Mitarbeiter zu stellen (Ist-Zustand). In diesem Zusammenhang können Potentialträger leichter identifiziert und entwickelt werden. Ferner richtet das Verfahren die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Zieldimensionen des Unternehmens und fördert die Kommunikation über Kompetenzanforderungen. Zudem wird das Bewusstsein für entscheidende Human Factors und ihre Zusammenhänge gestärkt. Ein 360°-Feedback-Tool ist neben vielseitigen Rückkopplungsprozessen ein geeignetes Instrument für das Vorantreiben eines Kulturwandels. Zum Beispiel wird die Hemmschwelle für unmittelbares Feedback gesenkt und Offenheit sowie eine schnellere Reaktionsfähigkeit bei Problemen gefördert (Scherm & Sarges, 2002; Schwarz, 2008).

 

Wirksamkeit von 360°-Feedbacks

Um die Wirksamkeit von 360°-Feedbacks zu überprüfen, wurde in wissenschaftlichen Studien untersucht, inwiefern sich die Feedbackberichte einer Führungskraft über die Zeit weg verändern. Hegarty (1974) konnte zeigen, dass die Feedback-Geber nach einem 360°-Feedback ein verbessertes Führungsverhalten ihrer Führungskraft wahrnehmen und die nachfolgenden Bewertungen deutlich besser ausfielen (ähnliche Befunde zeigten Smither, London, Vasilopoulos, Reilly, Millsap & Salvemini, 1995). Eine besonders große Leistungsverbesserung zeigte sich bei Führungskräften mit einer vorherigen schwachen bis mittleren Leistung. Keine Veränderung oder sogar eine Leistungsabnahme lag bei Führungskräften vor, denen von Anfang an eine hohe Leistung zugeschrieben wurde (Reilly, Smither & Vasilpoulos, 1996). Auch Johnson & Frestl (1999) konnten nachweisen, dass eine Führungskraft mit einer höheren Selbsteinschätzung im Vergleich zu ihrer Fremdeinschätzung ihre Leistung signifikant steigerten. Während die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung augenscheinlich leistungsmotivierend auf Führungskräfte wirkt, erwies sich noch eine weitere Maßnahme als förderlich. Nach Walker & Smither (1999) verbesserten sich die Bewertungen der Angestellten mit größerer Wahrscheinlichkeit, wenn das Feedback aus dem Vorjahr zwischen Führungskraft und den Feedback-Gebern besprochen wurde.

Die Studienausschnitte lassen vermuten, dass 360°-Feedback zum einem leistungsmotivierend wirken kann, sobald Selbst- und Fremdeinschätzung nicht übereinstimmen. Zum anderen kann bei einer erfolgreich etablierten Feedback-Kultur eine neue Offenheit und Transparenz geschaffen werden, die sich förderlich auf das Gesamtsystem auswirken können.

 

360°-Feedback-Prozess

In der Wissenschaft gibt es zahlreiche Artikel zu den Bestandteilen und dem Ablauf eines 360°-Feedback-Prozesses (unter anderem Antonioni, 1996; Lewis & Zibarras, 2013; Scherm & Sarges, 2002). Folgende Schritte werden von nahezu allen Experten als wesentlich angesehen:

  1. Ziele und Zweck klären

Unternehmen, die überlegen, ein 360°-Feedback-System einzuführen, sollten in einem ersten Schritt die gewünschten Ziele und Folgen definieren bevor die eigentlichen Prozesse beginnen. Wichtig dabei ist, dass unter den Verantwortlichen Einigkeit bezüglich des konkreten Zwecks des 360°-Feedbacks besteht. Grundsätzlich gibt es zwei Einsatzmöglichkeiten: auf der einen Seite kann ein solches Tool als Beurteilungsinstrument für mögliche Personal- und Vergütungsentscheidungen eingesetzt werden, auf der anderen Seite als Instrument zur Weiterentwicklung des Feedback-Nehmers. Die Literatur spricht sich überwiegend für den Einsatz von 360°-Feedback zum Zwecke der persönlichen (Kompetenz)-Entwicklung aus und warnt teilweise sogar davor, 360°-Feedbacks als Basis zur Leistungsbeurteilung bzw. zur Entgeltfindung und Promotion zu verwenden.

 

  1. Auswahl eines geeigneten Feedback-Instruments

Basierend auf dem Zweck sowie der Art des Unternehmens muss ein entsprechendes 360°-Feedback-Tool ausgewählt und an die Unternehmensspezifika (Größe, Branche, Unternehmenskultur, Kompetenzmodelle) angepasst werden.

 

  1. Information aller Beteiligten

Sobald die Ziele und das eigentliche Instrument feststehen, sollten diese transparent an die potenziellen Feedback-Nehmer und Feedback-Geber kommuniziert werden. Dies erhöht die Erfolgsaussichten. Im Rahmen von Informationsveranstaltungen sollten folgende Themen adressiert werden: Ziele/Zweck des 360°-Feedbacks, Ablauf des Prozesses, Nutzen für den Feedback-Nehmer, Art des Fragebogens (quantitative und qualitative Fragen), Informationen zu Anonymität und Vertraulichkeit, Umgang mit Ergebnissen und Folgemaßnahmen. Um eine möglichst hohe Teilnahmequote zu erreichen, sollten diese Informationen offen und überzeugend kommuniziert werden.

 

  1. Durchführung der Befragung/ Erhebung der Daten

Bevor der eigentliche Feedback-Prozess starten kann, muss der Feedback-Nehmer die entsprechenden Feedback-Geber auswählen. Dies können Mitarbeiter, Kollegen, der Vorgesetzte, Kunden oder Privatpersonen sein. Im Rahmen dieser Auswahl sollte der Feedback-Nehmer seine Feedback-Geber noch einmal persönlich über den anstehenden Prozess informieren, mögliche offene Fragen klären und ihnen für die Teilnahme und Unterstützung danken.

Die Literatur weist außerdem darauf hin, dass eine Mindestanzahl an Feedback-Gebern (zwischen drei und fünf Teilnehmern pro Gruppe) zur Sicherung der Anonymität wichtig ist, besonders wenn das Feedback-Instrument qualitative Fragen umfasst. Dies ist insbesondere bei der Mitarbeiterperspektive entscheidend, da diese negative Auswirkungen aufgrund ihrer Einschätzung erwarten könnten.

Im Rahmen von Online-Befragungen können die Feedback-Geber per E-Mail eine Einladung zu der Befragung erhalten und das Feedback online ausfüllen. Dies stellt mittlerweile die einfachste und effizienteste Lösung dar.

 

  1. Auswertung und Rückmeldung an Feedback-Nehmer

In manchen Feedbackverfahren bekommen Feedback-Nehmer lediglich einen Ergebnisbericht ausgehändigt und sind bei der Interpretation dessen auf sich alleine gestellt.

Die Forschung ist sich jedoch einig, dass der Erfolg eines Feedbackverfahrens deutlich gesteigert wird, wenn ein Rückmeldegespräch durch eine hierin geschulte Person geführt wird. Folgende Aspekte werden als Teil eines Auswertungsgesprächs empfohlen:

  • Interpretation der Ergebnisse (quantitativ und qualitativ)
  • Umgang mit den Ergebnissen
  • Ableitung eines Entwicklungsplans
  • Folgemaßnahmen (gegebenenfalls mit Team)

 

  1. Folgemaßnahmen

 

Um die Nachhaltigkeit von 360°-Feedbacks zu sichern, empfiehlt sich der Einsatz von passenden Folgemaßnahmen. Diese reichen von Gesprächen mit dem Vorgesetzten über Coachings- und Trainingsmaßnahmen bis hin zu Teamentwicklungen. In einigen Fällen kann es außerdem sinnvoll sein, nach einiger Zeit eine erneute Follow-Up Befragung durchzuführen, um Entwicklungen und Verbesserungen sichtbar zu machen.

Kernaussagen zum Prozess

Grundsätzlich sollten bei jedem 360°-Feedback-Prozess die zuvor genannten Aspekte berücksichtigt werden. Dazu zählen die klare Zieldefinition – insbesondere die Unterscheidung zwischen Entwicklungs- und Beurteilungszweck –, die sorgfältige Auswahl und Anpassung des Instruments an die Unternehmenskultur, die umfassende Information aller Beteiligten, eine datenschutzsensible Durchführung der Befragung, die professionelle Rückmeldung durch geschulte Personen sowie geeignete Folgemaßnahmen zur Sicherung der Wirksamkeit. In welcher Art und in welchem Ausmaß diese Elemente umgesetzt werden, hängt maßgeblich vom Ziel des Verfahrens, der gelebten Unternehmenskultur und den verfügbaren Ressourcen ab.

 

Kritik am 360°-Feedback und unsere Sicht

Feedback-Geber können nicht zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Verhalten unterscheiden

360°-Feedback zielt auf das Verhalten und nicht auf die Persönlichkeit ab. Kritiker wenden ein, dass Teilnehmer nicht zwischen persönlichen Eigenschaften und gezeigtem Verhalten unterscheiden könnten. Das sei eine Fähigkeit, die nicht jeder so per se könne. Das ließe sich lernen, bräuchte aber viel Aufwand.

Wir teilen die Einschätzung, dass viele Führungskräfte und Mitarbeiter im Unternehmen sich beim Feedback geben, zwischen Persönlichkeitseigenschaften und konkretem Verhalten zu unterscheiden, schwer tun. Wir verstehen den Fragebogen eines 360°-Feedback-Instrumentes als Unterstützung und Übungsmöglichkeit für Menschen im Unternehmen, verhaltensorientierte Rückmeldung zu geben und einzuüben. Vorausgesetzt, die Items des Fragebogens sind verhaltensnah formuliert. In unseren Projekten erleben wir, dass Teilnehmer mit Hilfe verhaltensnaher Fragebogen-Items leichter Rückmeldung geben.

 

Aufwand und Nutzen eines 360°-Feedbacks stehen nicht in wirtschaftlichem Verhältnis

Kritiker meinen, die Einführung eines 360°-Feedbacks erzeuge einen sehr hohen Aufwand. Sie nennen als Aufwand die Einbindung eines Personaldienstleisters, der hilft, den Fragebogen aufzusetzen, den Schulungsbedarf der Teilnehmer und die administrativen Tätigkeiten zur Auswahl von Feedback-Gebern und Feedback-Nehmern.

Aus unserer Projekterfahrung mit 360°-Feedback-Instrumenten wissen wir, dass der Aufwand eines unternehmensspezifischen Fragebogens in den meisten Fällen eher gering ist. Viele Unternehmen haben heute firmenspezifische Kompetenzmodelle, die bis auf Verhaltensebene operationalisiert sind. Der Aufwand bei vorliegendem Kompetenzmodell einen Fragebogen aufzusetzen, ist in der Regel mit einem Beratertag erledigt.

Ist der Fragebogen dann verhaltensnah formuliert, sehen wir keine Notwendigkeit für die Schulung der Teilnehmer in Bezug auf die Items. Wir sind von Learning by doing überzeugt. Wichtig ist allerdings eine Informationsveranstaltung, auf der der oberste Chef glaubwürdig die mit dem Einsatz des Tools verbundene Zielsetzung kommuniziert. Dabei sollten die Informationen über den Einsatz eines 360°-Feedbacks keinen Zweifel daran lassen, dass der Einsatz eines solchen Tools zur persönlichen Standortbestimmung, Weiterentwicklung und zur Beziehungsgestaltung dient. Jegliche Verknüpfungsabsicht mit Leistungsbeurteilung oder womöglich zur variablen Entgeltbestimmung konterkariert die Förderung von ehrlichen Rückmeldungen. Die Förderung eines gemeinsamen Führungsverständnisses ist durch den Einsatz eines 360°-Feedback-Instruments implizit angeregt.

360°-Feedback bringt keine wahren Erkenntnisse hervor

Kritiker unterstellen, dass ein 360°-Feedback keine wahren Erkenntnisse hervor bringe und somit auch keinen echten Nutzen für die Organisation hätte. Mit dem Bezug auf eine Person im 360°-Feedback würde suggeriert, dass die Leistungsfähigkeit des Unternehmens dann stärker und besser wird, wenn eine einzelne Person stärker und besser wird.

Auch wir glauben nicht daran, dass die Leistungsfähigkeit des Unternehmens sich additiv aus der Leistungsfähigkeit Einzelner zusammensetzt. Als Systemiker sind wir davon überzeugt, dass die Gesamtleistung davon abhängt, wie gut sich die einzelnen Systemelemente aufeinander beziehen. Feedback sehen wir als Voraussetzung, passende, belastbare und wirkungsvolle Beziehungen zwischen den Systemelementen zu gestalten. Im Rahmen eines 360°-Feedbacks stellen Menschen, die im Arbeitsleben wechselseitig voneinander abhängig sind, Informationen zu Verfügung, die ihnen dabei helfen, ihr Verhalten wirkungsvoller in Bezug zu den ersteren zu modifizieren. Damit leistet das 360°-Feedback einen wertvollen Impuls zur vertikalen und horizontalen Teamentwicklung. Das 360°-Feedback ist eine weitere Möglichkeit, die Kooperation in Arbeitsbeziehungen zu verbessern. Das 360°-Feedback richtet somit die Aufmerksamkeit der Einzelnen auf das Zusammenspiel der Beteiligten im Unternehmen, was wiederum für die echte Leistung in komplexen Systemen entscheidend ist.

360°-Feedbacks dressieren Führungskräfte hin zu gefällig und unwirksam

Von Kritikern hört man häufig: „Führungskräfte passen ihr Verhalten im Berufsalltag an die erwartete Rückmeldung im Feedback an. Das bedeutet: schleichend richten die Betroffenen ihr Verhalten daran aus, was sie später als Feedback erhalten könnten. Führungskräfte lernen dabei, dass es für sie wertvoll ist, sich gefällig zu verhalten. Und sie optimieren ihr Verhalten dahingehend, Zustimmung im Feedback-Verfahren zu erhalten.“ Kritiker konstruieren an dieser Stelle gerne das Gegensatzpaar entweder gefällig oder wirksam.

Als Systemiker denken wir präferiert in der Kategorie Sowohl-als-auch. So kann für uns sowohl Gefälligkeit als auch Wirksamkeit Hand in Hand gehen. Wie oben schon genannt, sind wir vom systemtheoretischen Gedanken überzeugt, dass die Performance eines Unternehmens davon abhängig ist, wie gut die Menschen sich aufeinander beziehen. Starke Beziehungen entwickeln sich aus einem gegenseitigen iterativen Anpassungsprozess. Ein passendes Maß an Gefälligkeit ist das Ergebnis eines Anpassungsschrittes, der sich positiv auf die Beziehungsgestaltung auswirkt. Und positive Arbeitsbeziehungen setzen weitere Performance-Potenziale im Unternehmen frei.

Die Anonymität des 360°-Feedbacks fördert „Shitstorms“

Kritiker bemängeln die Anonymität der Rückmeldung im 360°-Feedback. Durch die Anonymität gäben die Feedback-Geber jede Verantwortung für ihre Meinung ab. Tür und Tor für „Shitstorms“ und taktische Rückmeldungen seien geöffnet. Unter taktischen Rückmeldungen sind Rückmeldungen zu verstehen, die der Feedback-Geber so wählt, um vermeintlich beispielsweise Personalentscheidungen indirekt im Unternehmen zu beeinflussen. Das ist möglich sofern die im Unternehmen für Personalentscheidungen verantwortlichen Personen Einblick in die Feedback-Berichte haben.

Die Absicht der Anonymität ist jedoch, für die Feedback-Geber im ersten Schritt einen angstfreien Raum zu schaffen, der es ihnen leichter macht, ehrliches Feedback zu geben. Unternehmen, die das Risiko von taktischem Feedback minimieren wollen, stellen sicher, dass der Ergebnisbericht nur dem Feedback-Nehmer zu Verfügung gestellt wird. Was der Feedback-Nehmer mit dem Feedback macht, bleibt zu 100% in seiner Verantwortung.

360°-Feedback unterbindet die 1:1 Auseinandersetzung

Die Kritiker führen weiter aus, dass durch das 360°-Feedback, die 1:1 Auseinandersetzung verloren ginge. Wir sehen das 360°-Feedback als ersten Impuls, um im Unternehmen konstruktive, persönliche Feedback-Gespräche zu entwickeln. Ungeübte Skifahrer führt der Skiguide auch nicht bei der ersten Abfahrt durch den Tiefschnee. In dieser Analogie sehen wir das anonyme 360°-Feedback-Verfahren als eine zum Pflugfahren geeignete präparierte Piste und die persönliche 1:1 Auseinandersetzung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter als Tiefschneehang. Der geübte Könner hat Freude im Tiefschnee. Für den Anfänger stellt der Tiefschnee eine Überforderung dar.

Fazit

Wir können die bisherige Kritik weitestgehend unter der Annahme nachvollziehen, dass das 360°-Feedback-Instrument als Beurteilungs- oder Bewertungsinstrument gesehen wird. Wir verstehen ein 360°-Feedback-Instrument hingegen als Hilfestellung, um zieldienliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Informationen sind in unserem Sinne Rückmeldungen, die der Führungskraft helfen, eigenes Verhalten zu reflektieren. Die Informationen bieten der Führungskraft Ansatzpunkte, das Verhalten in der Art zu modifizieren, dass sie in ihrer Führungsrolle eine Chance hat, wirkungsvoller zu werden. Darüber hinaus erleben wir in unseren Projekten, dass das 360°-Feedback einen Anstoß zur vertikalen und horizontalen Teamentwicklung leisten kann. Hier bietet sich dann die Gelegenheit, sich konkret 1:1 mit den Themen auseinander zu setzen. Top down implementiert leistet das 360°-Feedback einen Beitrag zu einem höheren gemeinsamen Führungsverständnis.

Wirkung entsteht im Dialog – Warum Feedback Workshops brauchen

Ein 360°-Feedback ohne anschließenden Dialog ist wie Autofahren ohne Benzin: Das System ist technisch intakt, aber es bewegt nichts. Erst im gemeinsamen Gespräch entsteht das Potenzial, das in den gesammelten Rückmeldungen steckt. Die bloße Übergabe eines Ergebnisberichts bleibt oft folgenlos, oder wird sogar defensiv verarbeitet. Studien zeigen: Die Wirksamkeit steigt signifikant, wenn Führungskraft und Feedback-Geber gemeinsam über Ergebnisse sprechen (vgl. Walker & Smither, 1999).

Genau hier setzen Feedback-Workshops an: Sie bieten einen sicheren Rahmen für Reflexion, Perspektivwechsel und Beziehungsarbeit. Der Fokus liegt nicht auf Bewertung, sondern auf Verständigung. Die Beteiligten erleben sich als Mitgestalter eines Entwicklungsprozesses und nicht als bloße Bewertende oder Beurteilte. Dadurch wird Feedback zu einem gemeinsamen Lernprozess.

Unsere Erfahrung zeigt: Die Moderation dieser Workshops ist der entscheidende Wertbeitrag, den wir als Berater:innen von qoodos leisten. Denn in dieser Phase entscheidet sich, ob das Feedback als Impuls für Entwicklung aufgenommen wird oder als isolierte Momentaufnahme versandet. Moderation bedeutet in diesem Kontext: Dialogräume öffnen, Deutungsmuster auflösen, Entwicklungsideen sichtbar machen und dabei eine Haltung zu kultivieren, die von Neugier, Respekt und Lösungssuche geprägt ist.

Ein professionell begleiteter Feedback-Workshop macht Feedback konkret erlebbar, als Beziehungsgeschehen, als Entwicklungsanstoß, als kulturelle Praxis. Erst wenn Rückmeldung nicht nur gegeben, sondern gemeinsam verstanden und bearbeitet wird, wird Feedback Teil der Kultur. Und genau darin liegt die Chance: Nicht im Tool selbst, sondern im Raum, den es öffnet, für echtes Lernen und wirksame Zusammenarbeit.

 

Geschrieben von Thilo Leipoldt und Veronika Völler 

Ein besonderer Dank gilt Julia Lübbers, geb. Adorf, die im Rahmen ihres Masterstudiums nicht nur eine fundierte wissenschaftliche Recherche zum Thema 360°-Feedback geleistet, sondern deren Ergebnisse auch für diesen Deep Dive strukturiert und praxisnah aufbereitet hat. Ihre Sorgfalt, ihr analytisches Gespür und ihre Begeisterung für das Thema haben wesentlich dazu beigetragen, dass dieser Beitrag sowohl wissenschaftlich fundiert als auch anwendungsorientiert geworden ist.

 

 

Quellen

Antonioni, D. (1996). Designing an Effective 360-Degree Appraisal Feedback Process. Organizational Dynamics, 24 – 38.

Hegarty, W.H. (1974). Using subordinate ratings to elicit behavioral changes in manages. Journal of Applied Psychology, 59, 764 – 766.

Johnson, J. F. & Frestl, K. L. (1999). The effects of interater and self-other agreement on performance improvement flowing upward feedback. Personnel Psychology, 52, 271 – 303.

Lewis, R. & Zibarras, L. (2013). Work and Occupational Psychology. Integrating Theory and Practice. SAGE Publications.

Morgeson, F. P., Mumford, T. V. & Campion, M. A. (2005). Using Research and Practice to Address 27 Questions About 360-Degree Feedback Programs. Consulting Psychology Journal: Practice and Research, Vol. 57, No. 3, 196 – 209.

Scherm, M. & Sarges, W. (2002). 360°-Feedback. Praxis der Personalpsychologie. Göttingen, Hogrefe Verlag.

Schwarz, D. (2008). Das 360-Grad-Feedback zur Unterstützung der Kompetenzerweiterung von Führungskräften. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 15, 8 – 25.

Smither, J. W., London, M., Vasilopoulos, N. L., Reilly, R. R., Millsap, R. E. & Salvemini, N. (1995). An examination of the effects of an upward feedback program over time. Personnel Psychology, 48, 1 – 34.

Walker, A. G. & Smither, J. W. (1999). A five-year study of upward feedback: What managers do with their results matters. Personnel Psychology, 52, 393 – 423.

© Foto: Gérard Pleynet 

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