Selbstorganisation und Führung – Die ersten Schritte

Abstract

Die Themen Selbstorganisation und Agilität stehen immer häufiger auf der Agenda der Unternehmensführungen – und somit auch auf der vieler Berater. Mit deren Einführung bzw. Umsetzung sind hohe Erwartungen verknüpft. In vielen Fällen wird versucht, die eierlegende Wollmilchsau der organisationalen Konfiguration zu entwickeln, was eines der größten Hindernisse für die erfolgreiche Einführung selbstorganisatorischer Prinzipien darstellt. Es ist daher sehr wichtig, sich Gedanken zu machen, wie man mit dem Vorhaben starten kann und wie anschließend die Lernerfahrungen in die Organisation getragen werden können. In dem Artikel stellen wir ausgewählte Modelle zum Start vor und richtet uns damit insbesondere an Führungskräfte, die – ggf. noch in hierarchischen Strukturen – mit ihren Teams in die Selbstorganisation starten möchten.

Selbstorganisation – Zwischen Wahn und Wirklichkeit

In den Management-Etagen, Wirtschaftsratgebern und Newslettern dieser Welt ist immer öfter die Rede von erhöhter Komplexität, Schnelllebigkeit und Unsicherheit: Alles spricht von der VUCA-Welt. Die Forderung nach neuen Ansätzen wird lauter – alles muss agil sein. Gleichzeitig rückt der Mensch mit seinen Bedürfnissen immer mehr in den Vordergrund.

In all den Diskussionen tönt ein großes Thema konsequent hindurch: “Selbstorganisation” – eine Kombination aus Haltungen, Prozessen und Organisationsstrukturen, die die Lösung für viele unserer Probleme darstellen soll.

Verfechter rufen bereits das Ende der Hierarchie aus und propagieren das Zeitalter der Selbstorganisation. Wieder andere kontern mit Glaubenssätzen wie “Selbstorganisation ist Basisdemokratie und jeder macht was er will”. Mit dem Thema sind viele Hoffnungen verknüpft, die im unternehmerischen Alltag oft zu Aktionismus und Enttäuschung führen. Einerseits gilt es, größtmögliche Freiräume zu schaffen, um Selbstorganisation zu ermöglichen. Andererseits reagieren handelnde Akteure und Organisationen schnell mit Überforderung.

In unserer Arbeit mit Organisationen und in vielen Diskussionen mit anderen Organisationsberatern taucht immer wieder die gleiche Frage auf: Was ist überhaupt Selbstorganisation? Wenn dies – zumindest für einen selbst – zufriedenstellend geklärt ist, versucht man bereits von Anfang an eine funktionierende Konfiguration für die gesamte Organisation zu finden, die alle Probleme löst. Dieser Anspruch – da nicht erfüllbar – löst sehr schnell Ernüchterung aus und führt in einigen Fällen gar zu Zynismus. So werden Extrembeispiele herangezogen und in Frage gestellt, ob der „einfache Arbeiter am Band“ überhaupt in der Lage und Willens sei, nun alles selbst zu entscheiden.

Wir wollen mit unserer Arbeit weg vom „Aufreißen an Extremfällen“ und den Blick auf das „Machbare“ lenken. In diesem Artikel soll im ersten Schritt ein Überblick über die verschiedenen Ebenen bzw. Entwicklungsstufen der Selbstorganisation gegeben werden. Daran anschließend werden Modelle vorgestellt, die als Anregung für erste Schritte in Richtung einer selbstorganisierteren Organisation helfen können.

Warum eigentlich Selbstorganisation?

Das Akronym VUCA beschreibt die heutige Unternehmenswelt und ihre Märkte als volatil, unsicher, komplex und ambivalent. So stoßen selbst erfahrene Führungskräfte mit den bisher bewährten Tools und Werkzeugen an ihre Grenzen. Im Vergleich zum Industriezeitalter ist die heutige Wirtschaftswelt gekennzeichnet durch ständigen, jedoch unvorhersehbaren Wandel, kürzere Produktlebenszyklen, weniger loyale Kunden, anspruchsvollere Arbeitnehmer sowie erhöhten gesellschaftlichen Druck hinsichtlich Transparenz und humanen Arbeitsbedingungen. Dies stellt Unternehmen vor die Herausforderung, schneller zu reagieren, innovativer und effizienter zu arbeiten, mehr Nähe zum Kunden aufzubauen und gleichzeitig ein guter Arbeitgeber zu sein. Dies erfordert ethisch korrektes und mit sozialer Verantwortung nachhaltiges Wirtschaften. Um mit diesen Herausforderungen erfolgreich umzugehen, wird Selbstorganisation von vielen als unerlässlich angesehen.

Anhand des Cynefin-Modells von Dave Snowden (Abbildung 1) lässt sich anschaulich darstellen, dass es Situationen gibt, in denen es keine klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt und wir daher von der so geliebten best practice Abschied nehmen müssen. Führungskräfte sind heute nicht mehr in der Lage (wenn sie es denn je waren), die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in allen Bereichen ihrer Arbeit zu erkennen. Wenn überhaupt ist dies denjenigen Mitarbeitern möglich, die direkt mit den Kunden zusammenarbeiten und somit die nötige Nähe zum Problem aufweisen. In komplexen oder gar chaotischen Situationen braucht es schnelle Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die durch eine zentral gesteuerte Führung schlicht und ergreifend nicht mehr möglich ist.

Abbildung 1: Cynefin Modell (nach Dave Snowden, 2007)

In manchen Unternehmen müssen selbst die kleinsten Entscheidungen (bspw. über den Kauf eines neuen Druckers) über zwei bis drei Hierarchieebenen entschieden werden. Man stelle sich nur vor, wie viel Zeit dann wichtige Entscheidungen beanspruchen.

Die nachfolgende Abbildung zeigt auf, in Bezug auf welche Situationen Selbstorganisation die bevorzugte Management-Weise darstellt.

Abbildung 2: Komplexitätsspezifische Handlungsprinzipien
(Grafik von Bernd Oestereich (http://kollegiale-fuehrung.de)
Lizenz: Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0)
(http://kollegiale-fuehrung.de/portfolio-item/handlungsprinzipien/)

Bernd Oestereich und Claudia Schröder sagen in ihrem Buch „Das kollegial geführte Unternehmen“ treffend: „Führung ist zu wichtig, um sie nur Führungskräften zu überlassen.“ (Oestereich & Schröder, 2016).

Neben wirtschaftlichen Vorteilen von Selbstorganisation gibt es natürlich auch positive Auswirkungen auf die Mitarbeitenden die in solchen Strukturen arbeiten. So entsteht ein deutlich höheres Selbstwirksamkeitserleben, das sich positiv auf das Wohlbefinden und den Umgang mit Stress auswirkt. Menschen haben ein Grundbedürfnis, Verantwortung zu übernehmen (sofern sie sich kompetent fühlen) und sich in einer Gemeinschaft einzubringen.

Mit der Zeit haben wir gelernt, dass es wenig Sinn macht, viel Energie darauf zu verwenden, Kunden von etwas zu überzeugen. Die systemerhaltenden Kräfte können so stark sein, dass jegliche Veränderungsversuche zum Scheitern verurteilt sind. Und gerade beim Thema Selbstorganisation sind wir davon überzeugt, dass der Wunsch zur Veränderung von der Organisation bzw. ihren Vertretern ausgehen und getragen werden muss.

Vor dem Hintergrund, dass du dieses Whitepaper bis hierher gelesen hast, gehe ich davon aus, dass wir dich nicht mehr von der Sinnhaftigkeit der Einführung von Selbstorganisation überzeugen müssen, sondern du wissen möchtest, wie du loslegen kannst.

Stufen der Selbstorganisation

Laloux beschreibt in seinem Buch „Reinventing Organizations“ einige Organisationen, die komplett dezentralisiert, ohne Hierarchien selbstorganisiert arbeiten. Er spricht hierbei von sogenannten „türkisen“ Organisationen, die sich zudem dadurch auszeichnen, dass sie einen Ganzheitlichen Blick auf den Mitarbeitenden einnehmen und einen evolutionären Sinn verfolgen. Diese Organisationen sind jedoch in den meisten Fällen als solche von Beginn an so gestaltet worden. In klassischen Unternehmen sind Menschen anders sozialisiert und es stellt sich die Frage: Wie viel Neues ist noch verkraftbar (Hofert, 2016) und insbesondere, wie viel Selbstorganisation ist im ersten Schritt bereits ausreichend?

Wenn die Alternative der Ist-Zustand ist und bereits 5% mehr Selbstorganisation zu einer Verbesserung des Status quo beitragen, dann probiert es doch erst einmal mit den 5% und schaut danach auf die restlichen 95%.

Wir stellen die These auf, dass in deiner Organisation oder den Organisationen, bereits unterschiedliche Stufen der Selbstorganisation vorliegen. Dies kann auch von Team zu Team variieren. Ähnlich wie Svenja Hofert (2016) unterscheiden wir grob drei Stufen der Selbstorganisation, wobei es weniger darum geht, trennscharf festzulegen, auf welcher dieser Stufen man steht. Sinn und Zweck ist es vielmehr, ein Gefühl dafür zu bekommen, auf welchen Ebenen Selbstorganisation stattfinden kann.

Abbildung 3: Stufen der Selbstorganisation (Eigene Darstellung)

In Anlehnung an Hofert, S. (2016). Agiler führen Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Die erste Stufe nennen wir „Selbstbestimmte Arbeitsorganisation“. Auf dieser Stufe entscheiden die Mitarbeiter im Team selbst, WIE sie die festgelegte Arbeit erledigen. Es gibt weiterhin hierarchische Führungskräfte, die sowohl das WAS, also die Inhalte der Arbeit festlegen, als auch entscheiden, wann die Arbeit zufriedenstellend ausgeführt wurde. Anders als bei Hofert differenzieren wir hier noch etwas genauer. So können Mitarbeiter auf Stufe 1 bspw. in einem ersten Schritt frei entscheiden, wann sie welche Aufgaben erledigen. Anschließend und manchmal auch davor können Mitarbeiter zudem entscheiden, wie sie die Aufgaben erledigen. In weiteren Schritten teilt sich das Team bspw. die Aufgaben selbstorganisiert untereinander auf und übernimmt die Personaleinsatz- und Urlaubsplanung eigenständig.

Auf der zweiten Stufe, „Selbstbestimmte Zielfestlegung“, ist die grobe Richtung und Aufgabe des Teams (das WAS) noch vom Top Management oder der Führungskraft vorgegeben, das Team entscheidet jedoch selbst, WORAN es sich messen lassen will. Es bestimmt die Gütekriterien der eigenen Arbeit. Die Führungskraft ist mehr Coach und Berater und wird in einigen Fällen sogar vom Team gewählt.

Die dritte Stufe nennen wir „Strategisch, unternehmerische Selbstbestimmung“. Auf dieser Stufe agieren Teams als Unternehmer im Unternehmen und entscheiden eigenständig und in Abstimmung mit den anderen Bereichen, WAS sie zum Ganzen beitragen. Auf dieser Stufe gibt es häufig keine festen Führungsrollen für ein gesamtes Team, sondern Führung wird eher situativ entsprechend der jeweiligen Aufgabe und Kompetenz des Mitarbeiters verteilt.

Wie die meisten von Ihnen sicherlich bemerken, befinden sich Ihre Organisation, Ihr Team oder Ihre Klienten bereits auf einer dieser Stufen. Das heißt, Sie müssen häufig gar nicht ganz von vorne anfangen. In diesem Artikel fokussieren wir größtenteils auf Entwicklungen innerhalb der ersten Stufe der Selbstorganisation.

Wie bzw. wo sollen wir denn bloß anfangen?

Bernd Schmid pflegt zu sagen: „Organisationsentwicklung ist Chef-Sache oder findet nicht statt.“[1] Dies trifft auch auf die Umsetzung von selbstorganisatorischen Prinzipien in Unternehmen zu. Ohne Commitment des Top Managements wird sich das Unternehmen nicht grundlegend ändern.

Wenn sich nun das Top Management auf das Thema einlässt, wird schnell der Wunsch nach einer Organisation ohne Hierarchien gefestigt, in der alle motiviert zur Arbeit kommen und glücklich sind. Man liest oder hört von Unternehmen, die bereits erfolgreich in das neue Zeitalter eingetaucht sind und möchte dies nun auch für die eigene Organisation.

Als Berater ist der erste Schritt, mit den Verantwortlichen genau über die Ziele der Veränderung zu sprechen sowie über die Konsequenzen, die sich daraus für die Mitarbeiter, aber vor allem auch die Führungskräfte und einen selbst ergeben. Status- und Einflussverlust sind nur zwei der vielfältigen Veränderungen.

Da der Fokus des vorliegenden Artikels auf den ersten Schritten bei der Einführung von Selbstorganisation liegt, gehen wir in diesem Fall davon aus, dass die Unternehmensspitze oder die jeweiligen Führungskräfte von dem Vorhaben überzeugt sind.

Wie in so vielen Bereichen unseres Lebens tritt häufig folgendes Phänomen auf: Kurzfristig überschätzen wir uns maßlos und langfristig unterschätzen wir uns. So glauben wir bspw. fest daran, in relativ kurzer Zeit ein Instrument lernen zu können, wenn wir nur sehr viel üben. Die geplanten zwei Stunden Üben pro Tag werden natürlich nicht umgesetzt und nach ein paar Wochen oder Monaten geben wir es ganz auf. Projekt gescheitert. Dadurch verpassen wir jedoch die Chance, zu erleben, wie gut wir hätten werden können, wenn wir über fünf Jahre hinweg täglich nur 30 Minuten geübt hätten.

Ähnlich verhält es sich mit unseren Veränderungsvorhaben in Organisationen. Viele Unternehmensberatungen kommen in Unternehmen und stellen sogenannte best practices vor und versprechen, diese genauso für den Kunden umzusetzen. Wenn schon bei der Einführung von IT-Systemen vieles anders kommt als in der best practice angedacht, wie unrealistisch erscheint dann erst die Erwartung, dass wir bei der Umgestaltung ganzer Organisationsprinzipien so vorgehen könnten.

Nichtsdestotrotz besteht beim Kunden, aber auch bei den motivierten Beratern der Anspruch, bereits vor der eigentlichen Umsetzung eine fertigstehende Konfiguration der neuen, selbstorganisierten Organisation vorliegen zu haben, die es von nun an einfach umzusetzen gilt.

Das Problem hierbei ist jedoch, dass es sich bei allen Organisationen um menschliche Systeme handelt, deren Komplexität nicht einfach durchkonfiguriert werden kann. Zudem stellt das Thema Selbstorganisation einen so großen Paradigmenwechsel dar, dass gerade erfahrene Manager nur schwer die dahinterliegenden Glaubenssätze akzeptieren können. Typische Einwände beim Besprechen einer möglichen Konfiguration sind: „Ich kann meine Mitarbeiter doch nicht ihr Gehalt selbst bestimmen lassen. Die suchen sich dann zu hohe Beträge raus.“ Oder „Die Mitarbeiter sind gar nicht in der Lage, unternehmerisch zu denken.“ Diese alten Glaubenssätze haben sich zum Teil über Jahrzehnte geformt und sind daher nur schwer durch ein paar Argumente zu ändern.

Durch die auf der einen Seite sehr hohen Erwartungen an das Thema Selbstorganisation und die auf der anderen Seite ganz neue Art, Zusammenarbeit und Führung zu denken, werden viele der Projekte bereits nach kurzer Zeit enttäuscht eingestampft.

Daher ist eine ausführliche Auftragsklärung mit den Entscheidern sowie sorgfältiges Erwartungsmanagement erfolgskritisch.

Komplexitätsreduzierendes Vorgehen zu Beginn

Bezogen auf die Einführung empfehlen wir unseren Kunden ein Vorgehen in kleinen, für die Organisation verdaubaren Schritten. Es ist vollkommen gerechtfertigt, eine Vision davon zu haben, wie die Organisation am Ende aussehen soll. Es ist jedoch nicht notwendig, diese bereits bis ins letzte Detail durchzudeklinieren. Da wir nicht genau wissen, wie sich bestimmte Veränderungen in den Prozessen oder der Führung auswirken, geht es darum, Erfahrungen zu sammeln, Probleme dann zu lösen, wenn diese auftreten (und nicht zwingend vorher) und entsprechend aus ihnen zu lernen.

Grundsätzlich lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden:

1) Einführung bestimmter, kleiner selbstorganisatorischer Prinzipien in der gesamten Organisation

2) Einführung von größeren Veränderungen in bestimmten Bereichen/Abteilungen/Teams des Unternehmens

Ziel dieser Vorgehensweisen ist es, die Komplexität der Veränderungsprozesse so handhabbar wie möglich zu gestalten und gleichzeitig spürbare Lernerfahrungen zu sammeln, die der Organisation Orientierung für das weitere Vorgehen geben und Lust auf mehr machen. Wenn die Unternehmensführung bereit ist, sich Zeit zu lassen, hat die zweite Variante aus unserer Erfahrung heraus den Vorteil, dass die gesammelten Lernerfahrungen i.d.R. qualitativ hochwertiger sind und auf lange Sicht den Veränderungsprozess beschleunigen können.

Dieses Vorgehen kann sehr unterschiedlich aussehen. Mal ist es eine Region von Filialen, die sich an bestimmten Prinzipien probiert und die gesammelten Erfahrungen anschließend komprimiert als Orientierungshilfe an ein größeres Gebiet weitergegeben werden. In anderen Fällen entscheidet bspw. ein Führungsteam, sich mit neuen Formen der Entscheidungsfindung zu beschäftigen und diese sukzessiv nach unten hin zu etablieren.

Die oben beschriebenen Vorgehensweisen beziehen sich hauptsächlich auf den Fall, dass die Unternehmensspitze einen umfangreichen Veränderungsprozess in Richtung Selbstorganisation angestoßen hat. Dies ist nicht immer der Fall. Es bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch Führungskräfte in ihren eigenen Teams Prinzipien der Selbstorganisation einführen können.

Die nachfolgend beschriebenen Modelle sind daher für alle Zielgruppen hilfreich. Wichtig ist bei allem, eine Art Forschungshaltung einzunehmen, für eine kontinuierliche Reflektion zu sorgen und somit Lernen zu ermöglichen.

Wenn wir bei Projekten dieser Art als Berater unterstützen, sehen wir uns daher weniger als Architekten der neuen selbstorganisierten Struktur, sondern eher als Lernbegleiter, die Impulse geben und die Reflektion und Verbreitung der gesammelten Lernerfahrungen unterstützen. Die nachfolgend vorgestellten Modelle sagen Ihnen daher nicht, was Sie zu tun haben, sondern dienen Ihnen zur Reflektion Ihres Führungsverhaltens. Sie bieten damit Anhaltspunkte für mögliche Veränderungen.

Modelle zum Start

Führung auf verschiedenen Ebenen / Führungs-Foki

Die Aufgaben einer Führungskraft lassen sich nach unzähligen Kriterien aufteilen. Kotter bspw. führte bereits im Jahr 1990 die Unterscheidung zwischen Management und Leadership ein.

Der Führungswürfel[2] beleuchtet insgesamt sechs Perspektiven von Führung, von denen sich immer jeweils zwei gegenüberstehen: Systemgestaltung vs. Operative Tätigkeiten/Wertschöpfung, Hierarchie vs. Netzwerk und Führungsrolle vs. Führungspersönlichkeit. Alle sechs Perspektiven spielen in Bezug auf Selbstorganisation eine wichtige Rolle. Im Folgenden fokussieren wir jedoch ausschließlich auf die Perspektiven Systemgestaltung und Operative Tätigkeiten/Wertschöpfung.

Systemgestaltung Je nach Hierarchieebene gibt es unterschiedliche Aufträge bzw. Aufgaben zur Gestaltung des Systems. Dabei müssen zwei Grundprinzipien beachtet oder in Einklang gebracht werden. Einerseits geht es um die Steigerung der Effizienz eines Systems. Andererseits soll die Weiterentwicklung ermöglicht werden, also geht es um den nachhaltigen Erhalt oder gar die Steigerung der Effektivität.

Leitfragen zur Standortbestimmung:

  • Welche guten Gründe gibt es, das System zu verändern?
  • Wo soll die Reise hin gehen?
  • Was muss langfristig angegangen / verändert werden?
  • Wer kann unterstützen?

Operative Tätigkeiten/Wertschöpfungskette Die operativen Tätigkeiten in einer Organisation werden oft als Wertschöpfungskette abgebildet. In einem Verantwortungsbereich kommen Aufträge an, werden auf eine bestimmte Art und Weise verarbeitet und anderen Bereichen oder dem Kunden zur Verfügung gestellt.  



Leitfragen zur Standortbestimmung:

  • Was sind unsere operativen Stärken? Was zeichnet uns aus?
  • Wo sind derzeit die größten Hürden in der Wertschöpfungskette?
  • Wo passieren die meisten Fehler?
  • Wo verlieren wir Zeit?
  • Was könnte mit Gewinn automatisiert oder standardisiert werden?

Tabelle 1: system worx Führungswürfel

In selbstorganisierten Unternehmen zielt Führung darauf ab, den Mitarbeitern auf der Ebene der operativen Tätigkeiten größtmögliche Freiräume zu geben und sie gleichzeitig zunehmend an der Systemgestaltung zu beteiligen.

Oestereich und Schröder (2016) treffen eine ähnliche Unterscheidung und sprechen hierbei von Ordnungsebenen der Führung. Führung auf der 1. Ordnungsebene bezieht sich auf operative Arbeit bzw. die Arbeit im System/Abteilung/Team. Führung auf der 2. Ordnungsebene bezieht sich auf organisationale Arbeit bzw. die Arbeit am System/Abteilung/Team. Sie unterteilen die zwei Ordnungsebenen jeweils nochmal in neun Unterebenen, welche die Handhabbarkeit für manche Anwender erschweren können. Unserer Ansicht nach ist es für Führungskräfte wichtig, sich der zwei Ebenen bewusst zu sein und dass auf diesen Ebenen wiederum unterschiedliche Abstufungen möglich sind.

In Anlehnung an unseren Führungswürfel und die Darstellung von Oestereich und Schröder (2016) haben wir in Tabelle 2 eine vereinfachte Version entwickelt.

Tabelle 2: Kollegiale Führungsebenen (in Anlehnung an Oestereich und Schröder, 2016)

Als Führungskraft oder Berater können Sie die Übersicht nutzen, darüber nachzudenken und auch mit anderen Führungskräften oder gar Ihren Mitarbeitern darüber zu diskutieren, welches Führungsverhalten wünschenswert sei. Die Übersicht stellt hierbei keine Weisung dar, was Sie zu tun haben und auch eine klare Abgrenzung zwischen den Ebenen ist nicht notwendig. Es geht vielmehr darum, das Denken in diese Richtungen zu fördern.

Ebenen der Einbeziehung und Delegationsmodi

Noch etwas praktischer als die Führungsebenen kann das Modell der Delegationsmodi genutzt werden, welches auf Jurgen Appelo zurückgeht. Das Modell beschreibt auf einfache Art und Weise, welche Abstufung ich als Führungskraft bzw. als Delegierender nutzen kann. Die Abstufung bezieht jeweils nur auf einen klar abgegrenzten Entscheidungsbereich und sollte daher stets in Abhängigkeit von der Wichtigkeit der Aufgabe und der Kompetenz des Mitarbeiters gewählt werden.

Abbildung 4: Ebenen der Einbeziehung

Darüber hinaus spielt auch der Effekt, den eine Delegationsstufe auf die Mitarbeiter hat, eine Rolle. Zur Verdeutlichung verwenden wir in unserer Arbeit mit Führungskräften ein eigenes Modell und sprechen von den Ebenen der Einbeziehung. Die verschiedenen Stufen und ihr Einfluss auf das Commitment und die Akzeptanz auf Seiten der Mitarbeiter sind in Abbildung 3 dargestellt.

Abbildung 3: Ebenen der Einbeziehung

Für manche Entscheidungen kann es genügen, die Mitarbeiter schlicht über eine Entscheidung zu informieren. Bei kritischeren Entscheidungen kann dies jedoch dazu führen, dass die Mitarbeiter nicht stark genug hinter der Entscheidung stehen oder sogar unzufrieden sind, da sie nicht involviert wurden. Je mehr ich als Führungskraft meine Mitarbeiter einbinde, desto mehr stehen diese hinter den Entscheidungen, tragen diese mit und – am wichtigsten – handeln danach.

Auch wenn es darum geht, die Mitarbeiter selbst Entscheidungen treffen zu lassen, gibt es verschiedene Möglichkeiten dies zu tun. So kann ich als Führungskraft andere beauftragen, eine Entscheidung zu treffen, mich jedoch über die Entscheidung und die Gründe zu informieren. In anderen Fällen kann ich die Aufgabe auch vollständig delegieren und darauf verzichten, informiert zu werden.

Ferner gibt es Mischformen, die sich beispielhaft in folgender Aussage zeigen: „Meiner Meinung nach sollten wir uns an der Ausschreibung beteiligen. Ich brauche von euch bis Ende nächster Woche eine Empfehlung. (sich gemeinsam beraten / Mitentscheiden). Sofern ich bis dahin nichts von euch höre, werde ich die Entscheidung alleine treffen, ohne mich nochmal mit euch abzustimmen. Ich erkläre euch diese dann im Anschluss. (informieren).“

Die verschiedenen Delegationsstufen kann man auf klar abgegrenzte Aufgaben und Entscheidungen anwenden, aber auch auf Entscheidungen, die die Arbeitsgestaltung des Teams betreffen.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Selbstorganisation darauf abzielt, mehr Beteiligung zu ermöglichen, sodass Mitarbeiter mehr Führung übernehmen. Hierfür müssen jedoch immer auch die Kompetenz, das Wissen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen des Mitarbeiters berücksichtigt werden. Es geht darum, Schrittweise vorzugehen, Menschen Stück für Stück mehr Verantwortung zu übertragen und ihnen auch die Kompetenzentwicklung zu ermöglichen, neue Verantwortungen übernehmen zu können.

Vorschlag für ein Experiment: Binden Sie Ihre Mitarbeiter in die Übertragung von Aufgaben einfach mal mit ein. Fragen Sie bspw. „Wer möchte die Aufgabe erledigen?“ oder „Traust du dir xy zu? Und was brauchst du von mir?“

Ein wichtiger Aspekt im Delegationsprozess ist das Thema Vertrauen. Das Teufelskreis-Modell nach Schulz von Thun (2010) macht dies am Beispiel von Kontrollverhalten bei Führungskräften deutlich (Abbildung 4).

Abbildung 5: Teufelskreis-Modell nach Schulz von Thun

In diesem Beispiel gehen wir davon aus, dass eine Führungskraft die Arbeitsergebnisse ihres Mitarbeiters kontrolliert und ggf. anpasst. Dieses Verhalten kann bei dem Mitarbeiter das Gefühl auslösen, dass die Führungskraft ihr nicht vertraut. Dadurch kann Demotivation entstehen und die Erkenntnis, dass man nicht 100% geben muss, wenn eh immer kontrolliert wird. Die daraufhin entsprechend schlechtere Arbeitsleistung bestätigt die Führungskraft jedoch nur in ihrem Verhalten. Das vertrackte an dieser Situation ist, dass beide Parteien gute Gründe für ihr Verhalten haben und sich meist nicht sagen lässt, wer oder was der eigentliche Auslöser war.

Im Kontext der Selbstorganisation ist es wichtig, sich als Führungskraft der Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf die Mitarbeiter bewusst zu sein. Es geht darum, Verantwortung abzugeben, eventuell aufgetretene Fehler anzusprechen, diese jedoch als Lerngelegenheit wahrzunehmen und den Mitarbeiter zu ermutigen, (dennoch) weiter Verantwortung zu übernehmen. Reinhard Sprenger (2002, S. 168). bringt die Misere auf den Punkt: „Please the boss – das ist die Krankheit, die wir uns durch die Delegationspraxis zugezogen haben. Denn Delegation heißt: Aufgaben abgeben, aber dafür sorgen, dass sie im Sinne des Meisters ausgeführt werden. Selbstverantwortung ade!“

Die Verantwortung der Führungskraft

Wenn Führungskräfte nun reihenweise Verantwortung abgeben, wofür sind sie dann überhaupt noch verantwortlich? Unserer Ansicht nach liegt gerade in selbstorganisierten Unternehmen/Teams die Verantwortung der Führungskraft darin, Orientierung zu geben und einen Rahmen sowie eine Kultur zu schaffen, in der Mitarbeiter selbstorganisiert und selbstverantwortlich agieren können. Die Einführung neuer Strukturen und Prozesse, die Abschaffung von Hierarchie sowie die Übertragung von Verantwortung kann nur gelingen, wenn die entsprechende Haltung und Kultur im Team vorhanden ist.

Die zuvor dargestellten Modelle erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern werden von uns als praktische Ansätze gesehen, wie Sie in Ihren Organisationen erste Schritte in Richtung Selbstorganisation unternehmen können.

Darüber hinaus gibt es natürlich noch viele andere Prinzipien, die auf der Ebene der Organisationsstruktur, -prozesse oder der Haltung der Mitarbeiter ansetzen. Zum Beispiel die Beschäftigung mit verschiedenen Entscheidungsformaten, die in selbstorganisierten Organisationen zum Einsatz kommen können. Diese werden im folgenden Abschnitt kurz beschrieben.

Entscheidungsformate

In klassischen Organisationen sind vor allem zwei Entscheidungsformate weit verbreitet. Im ersten Fall entscheidet eine Person. Dies ist meistens die Führungskraft, es sei denn, die Entscheidung wird an jemanden anderes delegiert. Bei letzterem sprechen wir auch vom delegierten Fallentscheid. Im zweiten Fall – insbesondere bei größeren Entscheidungen – wird der Mehrheitsentscheid gewählt. Häufig wird dabei versucht, durch Argumente zu einem Konsens zu gelangen.

Keine der beiden Varianten ist per se gut oder schlecht. Die Angemessenheit eines Entscheidungsformates ist bspw. stark abhängig von der Komplexität der Entscheidung und der zur Verfügung stehenden Zeit/Ressourcen. So mag die Entscheidung durch einen Vorgesetzten sinnvoll sein, wenn nicht viel Zeit und Ressourcen zur Verfügung stehen und die Entscheidung gleichzeitig wenig komplex ist. Um jedoch komplexere Entscheidungen zu treffen, braucht es häufig das Wissen der Gruppe bzw. derjenigen, die nah am Kunden oder Problem sitzen. Doch auch der Mehrheitsentscheid ist nicht immer der beste Weg.

Vor dem Hintergrund der Selbstorganisation und dem Umgang mit zunehmender Komplexität sollten Unternehmen und Führungskräfte einen Blick über den Tellerrand werfen und weitere Entscheidungswerkzeuge in Betracht ziehen. So werden für selbstorganisierte Unternehmen gerade bei komplexen Entscheidungen die Veto-Abfrage und die sogenannte Konsent-Methode, auch Einwandintegration genannt, empfohlen (Österreich & Schröder, 2016). Dabei macht eine Person oder eine Gruppe von Personen einen Entscheidungsvorschlag und die restlichen Betroffenen haben die Möglichkeit, Einwände gegen diese Entscheidung zu erheben. Diese werden gehört und je nach Schwere des Einwands bei der Entwicklung eines neuen Entscheidungsvorschlags berücksichtigt. In der Praxis kann sich diese Methode zum einen als schneller als der Mehrheitsentscheid erweisen und zum anderen wird durch sie eine andere Form der Akzeptanz hergestellt.

Für Führungskräfte ist es wichtig, sich mit den verschiedenen Entscheidungswerkzeugen vertraut zu machen, sie auszuprobieren und auf Grundlage der gemachten Erfahrungen zukünftig die passenden Formate zu wählen. Grundsätzlich empfehlen wir, Entscheidungsverfahren zu nutzen, in denen Mitarbeitern zunehmend Verantwortung übertragen wird, wie zum Beispiel beim delegierten Fallentscheid. Wichtig ist in diesem Kontext jedoch die Autorisierung. Mitarbeiter müssen wissen und verstehen, welche Entscheidungen sie treffen dürfen und wo sie sich beraten oder Genehmigungen einholen müssen.

Die Beschreibung weiterer alternativer Entscheidungsverfahren sowie die Beantwortung der Frage, wie mit der Übernahme von Verantwortung und dem Tragen von Konsequenzen umgegangen wird, würde den Rahmen dieses White Papers sprengen.

Reflexionsfragen

Um bereits jetzt erste Schritte zu gehen (oder Ihren Kunden dabei zu helfen) und sich im Dschungel der verschiedenen Modelle nicht zu verlieren, stellen wir Ihnen vier Reflexionsfragen zur Verfügung:

  1. Welche Entscheidungen treffe ich derzeit noch selbst, die andere besser oder ausreichend gut treffen könnten (da sie näher am Kunden sind oder schneller entscheiden könnten)?
  2. Welche Stufen der Einbeziehung nutze ich bewusst? Wie kann ich diese ausweiten?
  3. Welche Informationen / Fähigkeiten benötigen meine Mitarbeiter, um selbstorganisierter arbeiten zu können?
  4. Welche Vorteile ergeben sich hierdurch für mich? Und welche für meine Mitarbeiter?

Fazit

Der Artikel zeigt, dass es einerseits einiges zu beachten gibt, wenn man sich mit seiner Organisation auf den Weg in die Selbstorganisation machen möchte. Andererseits sollte gezeigt werden, dass mit geringem Aufwand bereits erste Schritte gegangen werden können.

Wichtig ist festzuhalten, dass es unterschiedlichste Möglichkeiten gibt, wie man anfängt und es nicht DEN einen, besten Weg gibt. Es geht darum, auszuprobieren, Erfahrungen zu sammeln, diese zu reflektieren und daraus zu lernen.

Geschrieben von: Sven Lübbers
Mitwirkender: Jaakko Johannsen

Literatur

Gloger, Boris & Rösner, Dieter (2014). Selbstorganisation braucht Führung: Die einfachen Geheimnisse agilen Managements. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG.

Hofert, Svenja (2016). Agiler Führen: Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität. Springer Gabler.

Kotter, John P. (1990). A Force for Change – How Leadership Differs from Management. Free Press.

Laloux, Frederic (2015). Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen.

Oestereich, Bernd & Schröder, Claudia (2016). Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. Vahlen.

Schulz von Thun, Friedemann (2010). Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen: Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Snowden, David J.; Boone, Mary E. (2007). A Leader’s Framework for Decision Making. Harvard Business Review, 69–76.

Sprenger, Reinhard (2002). Das Prinzip Selbstverantwortung – Wege zur Motivation. Campus.

 


[1] www.isb-w.eu

[2] sx Führungswürfel: https://system-worx-gmbh.jimdosite.com/shop/beratungstools/fuehrungswuerfel-deutsch-1/

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